15Jan


Seit Anfang der Pandemie beschäftigt sich die Journalistin Elsa Koester für die Wochenzeitung der Freitag mit der Körperlichkeit und ihren sozialen Implikationen während Corona. Unter dem Titel "Einsam durch die Krise" sprach Elsa Koester mit dem Video-Livetalk-Format der Rosa Luxemburg Stiftung Ausnahme & Zustand darüber, was Corona individuell und gesellschaftlich mit unseren Körpern macht, was das mit Klassenverhältnissen zu hat und wie Solidarität und politischer Aktivismus organisiert werden können in Zeiten von Physical Distancing.



Zu dem Thema "Corona und Körperlichkeit" hat Elsa Koester auch sehr lesenswerte Interviews für der Freitag geführt:

Streitgespräch ǀ „Nennen Sie mich jetzt unsolidarisch?“ — der Freitag 

Berührung I ǀ „Unser Körper braucht Gemeinschaft“ — der Freitag 

Berührung II ǀ „Zoomen ist wie ein neuronaler Leerlauf“ — der Freitag 

Berührung III ǀ „Sorry, tut mir leid, das zu hören“ — der Freitag 




Header by Pezibear 

13Jan


ICH FRAGE mich, wann der Anruf vom Contact Tracing kommt. Ich warte seit Tagen darauf. Währenddessen versuche ich seit Stunden meinen Einkauf online zu erledigen.... 

Heute ist Freitag, der 30.10.20. Ich befinde mich mit meiner Familie seit Dienstag in der Quarantäne. Seit vier Tagen sind insgesamt zehn Kontaktpersonen meiner Tochter in der Isolation. Zum Teil sind sie inzwischen negativ getestet worden.


Das Contact Tracing hat noch nicht angerufen. 

Die Lieferung vom Supermarkt kann erst fünf Tage nach dem Bestellungstag erfolgen. 

Das Contact Tracing ruft erst nach vier Tagen an.


Dort herrscht Chaos, die Ansagen sind unklar, ein Kollege sagt eine Sache, der andere etwas anderes.
Die Erfassung der Daten läuft wie eine Farce; der eine Kollege kann das Buchstabieren nicht verstehen, also er schreibt alle fünf Namen als meinen Vornamen auf – er schreibt: Emil, Friedrich, Richard, Anton, Theodor Stempler. Ein anderer Kollege ruft eine halbe Stunde später an, bemerkt die größeren Fehler und korrigiert sie. Er sagt: Sie klingen aber älter... sind Sie die Mutter? Ich sage: Klar, das habe ich bereits Ihrem Kollegen erklärt, er hat ja alle Daten erfasst. Um sicher zu sein frage ich wieder: Dürfen wir wirklich - so wie Ihr Kollegen meinte - nach negativem Testergebnis die Quarantäne abbrechen? Er antwortet: NEIN, wer hat Ihnen sowas mitgeteilt? Ich sage: Ihr Kollege. 

Es ist der fünfte Tag. Wir hangeln uns einigermaßen durch die Quarantäne. Meine Tochter ist seit fünf Tage in Isolation in ihrem Zimmer. Jeden Tag essen wir drei alle Mahlzeiten mit unserem Sohn im großen Raum, ohne meine Tochter. Sie, sowie sechs andere Jugendliche schlafen, essen, lernen und sozialisieren digital in und aus ihren Zimmern.  

Es ist Samstag, der 31.10.20: Ich bekomme eine Mail, die an meine Tochter adressiert ist. Sie soll die Hygienevorschriften lesen und befolgen. Ist das jetzt nicht zu spät? Wir achten trotzdem darauf.

Die Mail soll auch für meine Tochter als Schulabsenz-Bescheinigung gelten. Was ist mit mir? Ich kann seit einer Woche nicht in die Arbeit. Wo ist meine Arbeitsausfall-Bescheidung? Ich rufe das Contact Tracing an. Erstaunlicherweise komme ich nach einer halben Stunde durch. Sie sagen mir, die Bescheinigung kommt noch. 

Ein Tag vor Ende der Quarantäne, die Bescheinigung ist noch nicht da. 

Heute, einen Tag vor dem Ende einer 10-tägigen Quarantäne:
Uns fehlen Zwiebeln, Kekse, Schokolade, Shampoo und Waschmittel.
Seit letztem Donnerstag haben wir schnell alle Ressourcen von Freunden und Nachbarn genutzt, die beim Einkaufen halfen.
Jetzt warten wir lieber das Ende der Quarantäne ab, damit wir unsere Nachbarn nicht noch einmal fragen.
Wir warten mit der Wäsche, dem Haarwaschen und den Süßigkeiten. Wir haben stattdessen Kekse gebacken. 

Contact Tracing ist ineffektiv.
Selbstverantwortung hat in diesem Fall die Ansteckungskette gestoppt.


ES - 28. Oktober - 04. November 2020 - Schweiz



Header by andreas160578

12Jan


ICH SEHE einen Mann im Museumsshop, der das mit dem Abstandhalten sehr verinnerlicht hat, aber nicht mehr differenziert, wozu er Abstand halten soll. 

Er geht durch den Shop, schaut sich alles mit einem knappen Meter Entfernung an. Manchmal will er ein Objekt berühren, dann macht er seinen Arm ganz lang, greift ins Regal, während er seine Körpermitte noch weiter davon wegschiebt. Sein Rücken wölbt sich, während er das Kartenspiel in Künstler-Edition hoch hebt und es kurz betrachtet, um es dann wieder ins Regal zu stellen.


NB



Header by cottonbro 

09Jan


Ein Gastkommentar 

Das klassische Setting für Hochschullehre jenseits amphitheaterähnlicher Auditorien ist das Rechteck. Rechteckige Räume, rechteckige Tische, rechteckige Laptops. Studierende in Reihe, nach vorne ausgerichtet und für frontale Beschallung optimiert, auf dass auch die Gedanken in geordneten Bahnen verlaufen mögen. Das aufzubrechen, bedeutet zeitraubendes Möbelrücken und kleine Völkerwanderungen.

Nun sind wir in digitale Räume geworfen und wieder in Rechtecken gefangen. Im schlimmsten Fall hocken wir inmitten kleiner schwarzer Kacheln, aus denen manchmal eine Stimme zu hören ist. Nicht selten nicht einmal das. Im besten Fall sind alle sichtbar, aber es ist unmöglich, die Gruppe als Ganzes zu erfassen. Schon gar nicht, wenn man sich als Schlüsselperson antrainiert hat, in die Kamera zu schauen.Ich höre Wortbeiträge, bevor ich sie sehe. Was sähe ich nicht alles, wären wir alle in einem Raum! All diese kleinen Reaktionen in Haltung und Mimik, die den Drive einer Vorlesung bestimmen – manchmal lähmend, manchmal beflügelnd – sind nun heruntergedimmt. Es fällt mir leichter, drohende Lähmungserscheinungen zu ignorieren, dafür gebe ich aber auch mehr Energie in den virtuellen Raum als ich zurückbekomme.

Bin ich weniger authentisch? 

Jede virtuelle Vorlesung ist eine Ausnahmesituation. Ich habe mich selten so beobachtet gefühlt. Wirft mich die Kamera in diesen merkwürdigen Performance-Modus? Oder der Ehrgeiz, optisch mehr als erträglich und damit besser als Selbststudium zu sein? Macht mich das nahbarer? 

Ganz sicher nicht.Wir sind nur noch Kopf und Schulter. Manchmal wird mir bewusst, dass meine unbewusste Gestik gar nicht zu sehen ist und ich frage mich, ob das für die Studierenden einen Unterschied macht. Und macht es für sie einen Unterschied, ob ich stehe? Für mich schon. Ich muss stehen, um konzentriert zu sein und um meine Stimme nicht abzuwürgen. Ich vermisse es, durch den Raum zu gehen...

Gefangen im Rechteck. Breakout Rooms suggerieren das Gegenteil. Über einen geheimnisvollen Algorithmus lassen sich immer wieder neue Konstellationen von Teilnehmer_innen kreieren. Das schafft zumindest die Illusion geistiger Beweglichkeit, denn in manchen Breakout Rooms herrscht Stille. Immerhin entlarven diese kleinen virtuellen Bewegungen diejenigen, die technisch gesehen im Raum, aber physisch ganz woanders sind.

Zugleich sind Breakout Sessions merkwürdige Momente des Alleinseins. Was tut man in 10 Minuten, wenn man weiß, die Studierenden sind gleich zurück und erwarten den nächsten Impuls? Der virtuelle Raum ist ein Zwischenreich zwischen den eigenen vier Wänden und denen der Hochschule. Ziemlich fremde Menschen bevölkern plötzlich das persönliche Umfeld. Mit einem Klick sind sie wieder verschwunden. Und mit dem nächsten wieder da. Das müsste mir eigentlich ein Gefühl der Macht geben. Tut es aber nicht. Distance Learning oszilliert zwischen Distanz und Entgrenzung...


Berit - Professorin



Header by Gerd Altmann

08Jan


Die Netzlese zum zweiten Wochenende des Jahres 2021 beschäftigt sich mit der Zukunft nach der Corona Pandemie und wirft einen kurzen Blick zurück in den Sommer des letzten Jahres.

Das zukunftsInstitut untersucht die Frage wie wir nach der Pandemie leben und wirtschaften werden. Hierzu entwerfen die Zukunftsforscher die vier Zukunftsszenarien Totale Isolation, Systemcrash, Neo-Tribes und Adaption. Was in dem Artikel Der Corona-Effekt: 4 Zukunftsszenarien (zukunftsinstitut.de) kurz angerissen wird, kann im White Paper genauer nachgelesen werden.

Der Gründer des Zukunftsinstitutes Matthias Horx erklärt im Video zu seinem Eröffnungsvortrag auf der digitalen midi-Tagung „Das gefühlte Corona – Erfahrungen mit der Pandemie und die Folgen für die kirchliche und diakonische Praxis“ am 16.11.2020 welche Auswirkungen Tiefenkrisen wie Corona auf uns haben können und wie sie die Gesellschaft dadurch transformieren.



In ihrem Artikel für das Goethe-Institut Wie das Virus unser Leben verändert zieht die freie Journalistin Petra Schönhöfer im August 2020 eine Corona-Zwischenbilanz für die Bereiche Umwelt, Wirtschaft, Arbeitswelten, Medien, Kunstmarkt und Theater.



Header by Pezibear 

06Jan

Efrat Stempler ist Dozentin für Bewegung im Schauspiel an der Zürcher Hochschule der Künste.
ICH DENKE, ich muss meine Unterrichtsmethoden völlig neu strukturieren. Gestern habe ich mit meinem Kollegen Patrick telefoniert. Er meinte, sie haben in der Leitung den Notplan für das Herbstsemester durchgedacht, damit können wir den Präsenzunterricht in vier Wochen ruhig und sicher starten. 

Der Plan basiert auf dem, was ich Gated Communities nenne, das heißt; die Studierenden sind in kleine Gruppen aufgeteilt und werden sechs Wochen lang nur in dieser Gruppe studieren und sich in den Schulräumen immer nur in ihrer Gruppe aufhalten müssen. Nur im Bewegungs- und im Sprechunterricht kann (unter Bedingung der Einhaltung der Abstandsregeln) ohne Maske gearbeitet werden. Da dieser Unterricht immer in großen Räumen stattfindet, dürfen wir zwei Gruppen gleichzeitig unterrichten, allerdings dürfen keine Berührungen stattfinden und natürlich keine Einmischung. Also wäre die optimale Raumaufteilung, wenn eine Gruppe sich nach dem Betreten immer in einer Hälfte des Raums aufhält, während die andere Gruppe die andere Hälfte einnimmt. Am besten wäre es, wenn ich mich in der Mitte des Raumes platzieren würde, denken sie. 

Bin ich die Abwehrwand? Soll ich die Bakterien und Viren meiner Studierenden abhalten und bekämpfen, damit die andere Gruppe nicht infiziert wird?

Ich habe einen Plan: der Tanzsaal ist von beiden Seiten betretbar. Also kommt die eine Gruppe auf der linken Seite in den Raum hinein, während die andere Gruppe von der rechten Seite kommt. In der Mitte gibt es dann einen Ort, der von den Studierenden nicht betreten wird. Diesen Ort nenne ich Nomansland, oder manchmal auch den Todesstreifen.

Vor dem Lockdown habe ich meinen Unterricht immer in einem Kreis begonnen. Der Kreis hat einen rituellen Effekt und erlaubt den Studierenden im Kollektiv zu arbeiten, einen gemeinsamen Rhythmus zu finden und in konstantem Kontakt/Resonanz zu bleiben. Für Schauspiel stellt das eine essenzielle Basis für das Zusammenspiel dar. 

Für einen Kreis mit jeweils 1.5 Meter Abstand ist kein Platz mehr.


Der zweite Teil des Unterrichts ist Bewegung im Raum und beinhaltet freie Improvisation. Auch davon (von diesem Prinzip) muss ich mich verabschieden. Während einer Bewegung im Raum, verbreiten sich die Aerosole überall. Normalerweise interagiere ich mit den einzelnen Studierenden während meines Unterrichts. Jetzt darf ich den Studierenden nicht mehr nah kommen.

Im Frühlingssemester steigen wir in ein Hybridsystem um. Manchmal digital und manchmal in ‚echt‘. Ich muss kreativ bleiben und meine Unterrichtsmethoden ständig/immer wieder neu überdenken.


ES 20. August 2020



Header by Andrew Martin

05Jan

ICH FRAGE mich, ob das ein schlechter Scherz ist, als der Festivalleiter ansetzt, meinen Kollegen Martin und mich zur Begrüßung zu umarmen. 

Wir haben uns wochenlang gefragt, ob es richtig ist, aus Berlin nach Sofia zu fliegen, hatten fast gehofft, dass uns die Entscheidung durch ein öffentliches Verbot abgenommen wird. Aber jetzt sind wir da, verlassen den Flughafen, treten in die bulgarische Oktobersonne und bleiben verwirrt stehen als wir wortwörtlich mit offenen Armen empfangen werden. 

Wir sind aus eben den Berliner Bezirken mit aktuell erschreckenden Infektionszahlen, fühlen uns als Gefahr für die anderen und winken schnell hektisch ab. Alternativ wird uns die Hand zum Einklatschen hingehalten, auch da schütteln wir wieder hektisch den Kopf, führen kurz die Ellenbogenbegrüßung vor, was aber ebenfalls unangenehm ist. Wie konnte die sich überhaupt durchsetzen? Wer findet denn diese Art von körperlicher Begrüßung angenehmer als sich lieber doch gar nicht zu berühren? Hat irgendjemand sie schon mal unironisch ausgeführt? 

Da stehen wir also, versuchen trotz Distanz nicht distanziert zu wirken und als die nächste Begrüßung ansteht, winkt der Festivalleiter gleich stellvertretend für uns ab: „They don’t hug.“ sagt er. Wir zucken die Schultern, nicken, ja, das stimmt wohl so.


NB






Header by Charl Folscher

03Jan

Wie hat Corona EURE Choreographie des Alltags verändert?

Wir wollen wissen, wie es euch in den letzten Monaten ergangen ist. Was sind eure Erfahrungen? Wie fühlt ihr euch? Was bewegt euch? Was fehlt euch körperlich? Welchen Auswirkungen haben die Veränderungen des alltägliches Lebens auf euch? Oder hat sich vielleicht gar nicht so viel geändert für euch?

Wir freuen uns auf eure Antworten.

Hier geht´s zum Fragebogen

Nennt uns Namen, Alter und Beruf(ung) - natürlich nur, was ihr wollt - schickt uns den Fragebogen zu und wir stellen eure Antworten hier online.

youllneverwalkalone(at)mailbox.org



Header by cromaconceptovisual

02Jan

Die Liebe in pandemischen Zeiten ist heute gleich zweimal das Thema im Neuen Deutschland. Schöne, lustige, berührende und kämpferische Liebesgeschichten haben die Autor*innen Sarah Schmidt, Frédéric Valin, Elke Wittich, Heiko Werning, Ella Carina Werner und Andreas Meinzer für Covid-19: Liebe in Zeiten von Corona (neues-deutschland.de) (neues-deutschland.de) aufgeschrieben. Sechs Geschichten, in denen sich die eine oder der andere bestimmt wiedererkennen mag.

Marie Frank hat Andrea Newerla von der Justus-Liebig-Universität Gießen interviewt, die im Rahmen einer qualitativen Interviewstudie im Oktober und November 18 Personen befragt hat, wie sie physische Intimität und Intimpartnerschaften in der Corona-Pandemie gestalten. Wie die Situation speziell von Singlen in Zeiten von Corona aussieht, darüber berichtet Singles in der Pandemie: Der exklusive Corona-Buddy (neues-deutschland.de) (neues-deutschland.de) 

Noch aus dem letzten Jahr stammt die Leserbefragung von Janis Dietz vom Zeit Magazin. Sechzehn Leser berichten in Jahreswechsel in Corona-Zeiten: "Bei mir stapeln sich die Konzerttickets" | ZEITmagazin worauf sie sich mal zaghaft, mal zuversichtlich in 2021 freuen.

Der erste Das Politikteil - Podcast 2021 beschäftigt sich mit dem Existenzkampf von Künstler*innen und was der Lockdown für die Kultur bedeutet. Für den Zeit-Online Podcast hat Lena von Holt  mit Künstler*innen gesprochen, die sie bei Künstler in der Corona-Krise: "Mir fehlt der Kontakt zum Publikum" | ZEIT ONLINE zu Wort kommen lässt.



Header by Pezibear

31Dec

ICH ERINNERE mich an den Anfang der Pandemie. Bezweifelt habe ich das Coronavirus nie, auch nicht seine Gefährlichkeit. Aber ich habe die Globalisierung, die auch körperliche Vernetzung unserer Welt unterschätzt. Covid19 oder Coronavirus SARS-CoV-2 betraf China, Wuhan, aber es bedrohte nicht mich und meinen Körper, mein Leben. Ich habe aufgehorcht als der erste Fall in Bayern durch die deutschen Medien ging. Aber für mich war Corona immer noch weit weg, die Familie in Bayern, die sich in Quarantäne befand ein Einzelfall. Ende Februar ging ich einkaufen für den gemeinsamen Dänemarkurlaub mit meinem Mann. Im Supermarkt traf ich auf eine Frau, die eine OP-Maske trug. Ich weiß noch genau, wie maßlos überzogen ich diese Reaktion fand und wie ich mich bei einer Nachbarin darüber lustig machte. 

Als ich Anfang März in Hamburg ankam, um von dort aus mit meinem Mann in den Urlaub aufzubrechen, hatte sich die Situation bereits etwas verschärft, aber immer noch waren es nur vereinzelte Fälle von Neuinfizierten, die gemeldet wurden. Ich wurde unsicher, ob meine bisherige Einstellung zu Corona noch der Realität entsprach und entschloss mich einen geplanten Varieté-Besuch ausfallen zu lassen. Wir gingen stattdessen bei unserem Lieblingschinesen in St Pauli Essen. Ich habe keine Ahnung, warum ich mich dabei zunächst sicherer fühlte, denn an diesem Abend habe ich andere Körper zum ersten Mal als potentielle Bedrohung empfunden, ohne dass mir jemand Prügel androhte. 

In meinen Jahren als Pflegehelfer in Altenheimen, Mobiler Pflege und im Krankenhaus OP habe ich dieses Gefühl niemals gehabt. Auch nicht bei HIV Patienten, denn ich wusste, wie ich mich schützen musste. Ich bin ein Kind der Achtziger Jahre und die Angst vor einer Ansteckung mit HIV und der damit einhergehenden Diskriminierung als homosexueller Mann hat mich beim Erwachsenwerden begleitet und auch traumatisiert. Ich habe viel an diese Zeit zurückdenken müssen in den letzten Monaten. Und ich weiß auch von anderen Homosexuellen, dass  in den letzten Monaten so manche Verletzung wieder hochkam. Insbesondere die Vergleichbarkeit der Verschwörungserzählungen von damals und von heute hat mich beschäftigt. 

Aber zunächst ging es in den Urlaub. Kurz vorher noch in den Supermarkt. Bloß nicht niesen, dachte ich. Daran Abstand zu halten, dachte ich noch nicht in der Konsequenz von heute. Das Niesen übernahm dann ein alter Mann vor mir an der Kasse, begleitet von giftigen Blicken so mancher Kund*innen. Wir genossen den Urlaub in der noch einsamen Jammerbucht, aber die schlechten Nachrichten bezüglich Corona zogen allmählich an. Langsam verdichtete sich die Gewissheit, dass das Virus unser Leben stark verändern würde und dass es sich nicht um eine Sache von ein paar Wochen handeln würde. Meine morgendlichen Spaziergänge am Meer wurden länger. Aber erst heute weiß ich, dass ich mich bewegen musste gegen die Angst, gegen eine unangenehme Vorahnung, die in mir aufkam. Tatsächlich verlor mein Mann am 10. März seinen Job am Theater, der an den Urlaub anschließen sollte. Einen Tag später wurde die Veröffentlichung meines Serienromans ein paar Tage vor der Buchmesse in Leipzig auf unbestimmte Zeit verschoben. Wir waren in den Urlaub gefahren, um Kraft zu tanken für die nächsten sehr anstrengenden Wochen, die vor uns lagen, und nun waren wir beide arbeitslos. 

In Dänemark reagierte das öffentliche Leben sofort auf Corona. In den Supermärkten konnte man sich am Eingang mit Einmalhandschuhen versorgen und Desinfektionsmittel stand für jede*n bereit. Im Geschäft selbst ging man etwas auf Abstand. Der Plausch auf dem Supermarktparkplatz wurde gehalten, aber mit Abstand. Schnell schloss auch der Feriencenter komplett und war nur noch telefonisch erreichbar. Hamstern habe ich in Dänemark nicht erlebt, nur das Desinfektionsmittel war rationiert. Die Dän*innen gingen ziemlich gelassen mit der Situation um, wie es mir zunächst erschien. Jedenfalls dort an der Küste, wo zu dieser Jahreszeit nur wenige Menschen waren. Irgendwie beschwichtigte das meine steigende Unruhe. Ebenso das viele in Bewegung sein auf den Spaziergängen, die Ausflüge. Die Überlegung den Urlaub zu verlängern, wenn wir jetzt eh schon ohne Arbeit waren, wurde mit dem Schließen der Deutsch-Dänischen Grenze exakt an unserem letzten Urlaubstag beendet. 

Ich erinnere mich, wie ich schon beim Einsteigen in das Auto verkrampfte. Der Feriencenter hatte uns versichert, dass wir ausreisen konnten, aber was würde uns an der Grenze erwarten. Wir wussten, dass es Kontrollen geben würde. Noch etwas anderes war für mich körperlich spürbar: Das ist jetzt Ernst, das ist Realität. Die Kontrollen an der Grenze waren ein Witz. Nur ein paar Autos wurde zum Fiebermessen raus gewunken. Und die Kriterien hierfür waren meines Erachtens nach sehr rassistisch. An der Raststätte entschieden wir uns für Coffee To Go. Als mir die Fastfoodketten-Angestellte ein Klemmbrett mit Stift reichte, um meine Adresse aufzuschreiben, habe ich sie ziemlich blöd angeguckt. Zum einen war ich überrascht, zum anderen fragte ich mich, ob ich jetzt meine Einmalhandschuhe, die ich seit ein paar Tagen zum Tanken verwendete, benutzen sollte, um Stift und Klemmbrett anzufassen. Die Überforderung siegte und ich entschied mich es zu lassen. Mein Körper verkrampfte noch mehr. Es war der Moment, von dem ab ich auf keinen Fall mehr in die Großstadt Hamburg wollte. Aber wir mussten dort die Arbeitswohnung meines Mannes auflösen. 

Dort angekommen staunten wir nicht schlecht. In den letzten Tagen hatte sich unser Leben verändert und war von Vorsicht geprägt. Unserer eigenen Vorsicht und der unserer Mitmenschen. Hier in Hamburg, an einem schönen sonnigen Tag, verhielten sich die allermeisten Menschen so, als sei nichts passiert in den letzten zwei Wochen. Niemand nahm Abstand, viele hockten draußen zusammen und genossen die Sonne bei einem gemeinsamen Bier. Bei der Bitte im Supermarkt Abstand zu halten wurden wir wahlweise ausgelacht oder bepöbelt. Etwas anderes war aber auch auffällig. Diejenigen, die Rücksicht nahmen und sich aus dem Weg gingen, lächelten sich an. Zumindest mit den Augen. Man erkannte sich und es hatte etwas von einer Verschwörung der anderen, empathischen Art. 

Am Abend waren wir bei einer sehr guten Freundin zum Essen eingeladen. Wie seltsam sich nicht zu umarmen zur Begrüßung und umeinander herumzuschleichen. Noch verrückter auf dem Weg dorthin darüber zu diskutieren, wie man sich denn nun verhalten sollte an diesem Abend. Die Angst, dass die Freundin die Zurückhaltung falsch verstehen könnte. Irgendwie hat sich mein Körper angefühlt wie Gummi an diesem Abend. Und es war dieser Abend, dass ich meinen Körper zum ersten Mal als Bedrohung für andere wahrgenommen habe. Ich glaube, es war die emotionale Nähe. Mein Mann und ich saßen eh in einem Boot. Aber wir wollten niemanden anstecken, schon gar nicht Menschen, die wir lieben. Und trotzdem kam es am Ende dieses Essens doch zu Umarmungen. Ich glaube, um das schlechte Gefühl, den Mangel, den wir nach der Begrüßung körperlich spürten, auszumerzen. 

Als wir wieder Zuhause im Oderbruch waren, war ich sehr froh. Ich atmete durch, machte wieder meine langen Spaziergänge am Morgen mit dem Hund und freute mich, weil hier auf dem Land, in dem kleinen Dorf, in dem wir leben, sich nicht sehr viel änderte durch Corona in unserem Leben. In den ersten Wochen waren zudem alle sehr vernünftig. Ob auf der Straße im Dorf, wenn man überhaupt jemanden traf in der kalten Jahreszeit, oder auch im Supermarkt. 

Das sollte sich schnell ändern. Die Situation kippte bei nicht wenigen im Oderbruch sehr bald in absolute Sorglosigkeit. So als sei Corona ein Großstadt-Ding. Einkaufen wurde zur Odyssee für mich. So, dass wir eine halbe Stunde zu einem Supermarkt fuhren, der auf die AHA Regeln achtete. Später im Sommer eskalierte diese Sorglosigkeit. So richtig zur Vernunft gekommen sind diese Leute erst seit der Mutation des Virus. Wer weiß wie lange?   

Viele Leute empfinden die Formulierung in unserem Fragebogen, in der nach der Bedrohlichkeit von Körpern gefragt wird, als zu stark. Ich empfinde es genau so. Ich nehme meinen Körper und die der anderen als potentielle, ungewisse Bedrohung wahr. Ob die Menschen, in diesen Körpern tatsächlich für mich bedrohlich werden oder umgekehrt, hängt dabei von unserem Verhalten ab.


HS



Header by Chetraruc

30Dec

ICH DENKE, dass die meisten Menschen nicht einschätzen können, was zwei Meter sind.Woher auch. Gestern habe ich mit meiner Tochter vor einem kleinen Laden auf der Langstrasse in Zürich gewartet. Der Verkäufer war kurz weg, die Tür war zu. Kurz nach uns kam eine weitere Familie mit einem Kinderwagen, eine schwangere Frau und zwei weitere Männer. Vor der Tür stand ein Schild: ‚Im Laden bitte 2 Meter Abstand halten‘.

Als der Verkäufer die Tür aufmachte sind wir, meine Tochter und ich, als erste reingegangen. Sofort wollten auch die anderen drei Erwachsenen mit ihrem Kinderwagen hinein gehen. Der Laden war viel zu klein. Also habe ich sie darauf hingewiesen, dass der Abstand so nicht eingehalten werden kann und auf das Schild aufmerksam gemacht. Die Frau hat peinlich berührt gelächelt. Sie sind dann draußen geblieben. 

A. Ich denke, dass viele, wenn nicht die meisten BürgerInnen, kaum solche Raumkonzepte einschätzen oder verstehen können.
Wieso sollen sie es überhaupt können? Was sind überhaupt zwei Meter Abstand? Ist nicht eigentlich 2qm gemeint, wenn mehrere Menschen sich in einem Raum aufhalten? Muss ich rechts oder links stehen, um diesen Abstand zu behalten, wenn es auf dem Boden nicht eingezeichnet ist? Nach hinten gab es in diesem Fall kein Platz.
Außerdem es ist immer anders gewesen - wenn die Tür sich öffnet, geht man in den Laden rein. Das ist instinktiv, das ist üblich. 

B. Ich frage mich, was ich gemacht hätte, wenn es geregnet hätte. Hätte ich die arme Familie draußen im Regen warten lassen bis meine Tochter ihr Handy ausgewählt hat? Nein, das hätte ich bestimmt nicht gemacht! Aus Solidarität, Höflichkeit, und sozialem Anstand.


Wir müssen unsere (Raum)Wahrnehmung wie auch unsere Werte an die neue Situation anpassen.


ES - 26.August 2020



Header by Ramdlon

ein Blog, der die Ergebnisse der Recherche „You’ll Never Walk Alone“ der MS Schrittmacher um das Thema der veränderten Choreographie des Alltags seit dem Ausbruch von Covid-19 versammelt. 

Spätestens seit dem März 2020 hat sich unser Alltag stark verändert. Wir gehen weniger aus dem Haus, wir verlassen unseren Wohnort seltener und unser Kontakt zu anderen Menschen nimmt ab, oder ist stark eingeschränkt. 

Es gibt weniger Ziele, die wir ansteuern, seit wir im Homeoffice arbeiten, seit Orte der Begegnung und sozialer Interaktion geschlossen sind und wir unsere Verwandten nicht mehr besuchen. Die Entfernungen, die wir täglich und wöchentlich zurücklegen, verringern sich. Doch auch die Wege und Orte, die wir betreten, sind andere geworden. Wir nehmen das Fahrrad statt der Bahn, wir gehen spazieren statt in Cafés zu sitzen und wir fliegen weniger. 

Eine dritte Komponente, die sich verändert hat, ist das Verhältnis der Körper auf den Wegen und Strecken zueinander. Menschenansammlungen werden ohnehin vermieden, aber auch die Begegnung zweier fremder Spazierender auf einem engen Weg hat sich verändert, wird zu einem Tanz des Ausweichens ohne Worte, des Anlächelns ohne Mund und des hastig Weitereilens. 

Noch fremdartiger erscheint uns oft das Aufeinandertreffen mit vertrauten Menschen. Die Gesten von Händeschütteln, Abwinken, Wangenküssen, Umarmung antäuschen, oder einer solchen Ausweichen werden begleitet von entschuldigenden Lauten und unserem unsicheren Gelächter, das zeigt; wir wissen nicht mehr wissen, wie wir einander begegnen sollen. Wir müssen neu lernen unseren eigenen Körper, die der anderen, die Entfernungen zwischen ihnen und die Räume, in denen wir uns befinden, einzuschätzen und anzuordnen, um den erforderlichen Abstand einzuhalten. Nicht jeder/m fällt das leicht, nicht jede/r hat ein Gespür dafür. 

In der Pandemie wird dem Bewusstsein für den eigenen Körper eine Verantwortung für die der anderen hinzugefügt und jeder private Gang durch den öffentlichen Raum hat gesellschaftliche Relevanz. Zudem erfährt der Körper eine enorme und abrupte Reduktion von körperlicher Nähe. Entfernung voneinander und Solidarisierung zueinander müssen parallel praktiziert werden, eine Aufgabe, an die sich eine Gesellschaft erst neu gewöhnen muss, die anstrengend ist, die frustriert. 

Frustration entsteht außerdem da, wo sich andere nicht den neuen Aufgaben annehmen und sich aus Angst, fehlender Flexibilität und Unmut gegen die neuen Regelungen sperren und damit die Arbeit und Anstrengung aller anderen zu gefährden drohen. Die Aussichten auf Umbruch und neue Chancen, die eine Krise implizit mit sich bringt, werden dadurch verdüstert, Optimismus und Antrieb drohen von Müdigkeit eingeholt zu werden. 

Die veränderten Bedingungen haben besonders Auswirkung auf alle, deren Körper sich bereits vor der Pandemie in speziellen, kritischen oder prekären Situationen befanden. Sexarbeiter*innen und Obdachlose, Menschen mit Vorerkrankung oder Einschränkung, Arbeiter*innen am Fließband und Menschen, die in Pflege oder Medizin die Körper anderer versorgen. Das Brennglas des Virus bringt alle bereits bestehenden Leerstellen und Missstände der Gesellschaft überdeutlich hervor. 

Wir haben uns mit der veränderten Choreographie des Alltags an verschiedenen Orten und Institutionen beschäftigt, zu Fragen von Mobilität, Isolation und Kommunikation recherchiert und die Ergebnisse auf dieser Website versammelt. Gemeinsam haben wir einen Fragebogen entwickelt, den verschiedene Menschen für uns in Interviews beantwortet haben und deren Antworten sich im Menüpunkt „Interviews“ finden. Mitglieder der MS Schrittmacher Gruppe haben außerdem Videos beigesteuert, die ihre Erfahrung oder Auseinandersetzung mit dem Thema darstellen. In Blogeinträgen teilen wir unsere persönlichen Eindrücke und Beobachtungen von der veränderten Choreographie des Alltags, geprägt von Maßnahmen, Entwicklungen und Erkenntnissen der Pandemie, und ebenso wird unser Arbeitsprozess, den wir dokumentieren, anschließend auf diesem Blog erscheinen. 

Wir freuen uns auf eure Anmerkungen und Fragen 

Euer MS Schrittmacher Team