15Feb

Ein Gastbeitrag

Es ist das erste Mal, dass ich meinen Vater sehe, seitdem wir wissen, dass er Lungenkrebs hat. Fortgeschritten. Unheilbar. Schmerzhaft. Beängstigend. 

Ich wage es nicht, ihn zu umarmen. Einer von vielen Momenten, die an mir zerren. Was immer ich tue, es ist richtig und falsch zugleich. Ich hatte noch nie so viel Alkohol an den Händen wie an diesem Tag. 

In den nächsten Stunden mit meinem Vater werde ich meine Maske nur einmal abnehmen. Ich erkläre ihm den ärztlichen Befund, den er nicht gelesen hat, und merke, er hat noch gar nicht realisiert, dass er todkrank ist. Da nehme ich die Maske ab, weil ich befürchte, dass sie alle Emotion und Empathie von ihm fernhält. So oder so bin ich ein Todesengel. 

Er sagt nicht viel. Ich nehme seine Hand. Sie zittert. 

***

Ich protestiere innerlich, als mir mein Vater eröffnet, dass wir zum Kaffeetrinken eingeladen sind bei einer Frau, die ich nicht mag. Es ist immer eine überzuckerte langweilige Tortur und nun lauert auch noch Corona am Tisch. Ich versuche gar nicht erst zu erklären, dass wir drei Haushalte und damit temporär verboten sind. Ich bin zu viel. 

Eine alte Dame im rosa Pullover empfängt uns. Sie streckt mir unbekümmert ihre Hand entgegen. Sie kommt mir vor wie eine rosa Waffe. Ich erkläre, dass ich ihr nicht die Hand geben möchte.

 Ich erkläre, dass ich keinen Kuchen möchte. Ich möchte meine Maske nicht abnehmen, um die beiden nicht zu gefährden, und sage das auch. Die Herrin des Hauses hat offenbar beschlossen, dass sie in ihren vier Wänden keine Maske zu tragen braucht. Mein Vater hält sich an die Spielregeln und vollführt ein ebenso merkwürdiges wie sinnloses Spiel mit Kaffeetasse, Kuchengabel und blauem Stoff. Ich verweigere sogar den Tee. Der rosa Pullover sagt vorwurfsvoll: „Den habe ich extra für Sie gekocht!“ Ich bleibe stur und leide daran, dass ich so unhöflich bin. 

Mein Vater fühlt sich ungefährlich und sagt: „Wir sind ja keine Risikogruppe.“ Ach nein? Er ist 87, sie nicht wesentlich jünger. Ich komme aus Berlin und habe mit mulmigem Gefühl zweieinhalb Stunden im Zug verbracht, um hier zu sein. Darf man auf alte fürsorgliche Frauen wütend sein? 


BS



Header by StockSnap

06Feb


ICH ERINNERE mich sehr gut an das Bild, wie vier Menschen sich trotz Corona gemeinsam durch eine Tür in einem Rohbau quetschten. 

Es war kurz vor Weihnachten 2020 in NRW. Eine sehr gute Freundin von mir und ich erschienen zu einer Wohnungsbesichtigung, die darüber entscheiden sollte, ob sie diese Wohnung bekommen würde. Wir waren zunächst zu viert. Meine Freundin und ich, beide selbstverständlich mit Maske, und die Maklerin und der Bauleiter, ebenso selbstverständlich ohne. Auch Abstand voneinander zu halten, war von Anfang an kein Thema. Aber nicht nur Abstand. Corona schien in diesem Rohbau grundsätzlich nicht zu existieren. Als der Bauherr, natürlich ohne Maske, zu uns stieß, begrüßte er alle Anwesenden mit Handschlag. Als ich ihm diese Art der Begrüßung, im Gegensatz zu meiner Freundin, verweigerte, reagierte er sehr pikiert. Für ihn zählte Höflichkeit anscheinend mehr als Infektionsschutz. Schließlich kam noch ein maskenloser Handwerker dazu, der uns anhand von Plänen erklärte, wo welche Anschlüsse in der Wohnung installiert werden würden. Keinen Abstand zu halten toppte der Mann locker, indem er bei seinen Erläuterungen fast Körperkontakt zu uns aufnahm. 

Gemeinsam besichtigten wir nun die geräumige Rohbauwohnung und meine Freundin und ich bleiben die einzigen, die weiterhin Maske trugen und auf Abstand achteten. Während die rauchende Maklerin, Bauleiter und Bauherr sich verhielten als habe es nie eine Pandemie gegeben, war es für uns ein ständiges Ausweichen. Dabei war es wirklich kein Problem auf 120 qm zwei Meter Platz zwischen sich und anderen zu lassen. Aber jedes Mal, wenn wir den Raum wechselten, quetschten sich die vier zusammen durch eine Rohbautür, als bliebe ihnen keine andere Möglichkeit.

Anschließend gingen wir gemeinsam dichtgedrängt durch das Treppenhaus um die Waschküche zu besichtigen, als der Bauherr scherzhaft meinte „Der Fahrstuhl funktioniert ja noch nicht“. In diesem Moment war ich heilfroh, dass wir uns in einem Rohbau befanden und es noch keinen Fahrstuhl gab, in den sich alle gequetscht hätten und es wohl auch von uns erwartet hätten. Vor dem Gang in den Keller, habe ich dann gepasst, bin nur noch raus und wartete draußen auf meine Freundin. 

Als sie nach der Besichtigung zum Auto kam, fragte sie mich augenblicklich nach Desinfektionsmittel. Ich fragte, warum sie dem Bauherrn die Hand gegeben hatte und meine Freundin berichtete mir von ihrem Konflikt, den sie in diesem Moment durchlebt hatte. Sie wollte dem Mann eigentlich auf keinen Fall die Hand geben. Innerlich war sie zunächst sogar zurückgezuckt.  Aber sie stand unter dem Druck, diese Wohnung unbedingt zu wollen. Da die Besichtigung darüber entschied, ob sie die große Wohnung mit dem weiten Blick bekam, hatte sie ebenso Angst unhöflich zu wirken. Letztlich war es eine Mischung aus Angst und Reflex, die sie dazu brachte, dem Bauleiter trotz Corona die Hand zu geben. 

Bei dieser Wohnungsbesichtigung habe ich mich gefühlt, als sei ich ständig auf der Flucht und war gezwungen eine Art von „Ausweich-Choreographie“ zu vollziehen. Dadurch, dass wir uns in einem Rohbau befanden, kam zwar immer noch frische Luft durch die Fensteröffnungen, aber durch das unvernünftige Verhalten der Maklerin, des Bauleiters, des Bauherren und des Handwerkers habe ich mich körperlich bedroht gefühlt.


MSt



Header by Mohamed Hassan

04Feb


ICH WEISS genau, nach dem Ende der Pandemie, will ich nicht zurück in diese „Normalität“. 

Eine Pandemie hat nichts Gutes an sich. Sie ist eine Naturkatastrophe. Aber unser Umgang mit dieser Krise kann durchaus positive Aspekte haben, wenn nicht sogar Dinge zum Besseren wenden. Dafür aber müssen wir genau hinschauen. Corona hat uns viele gesellschaftliche Baustellen aufgezeigt oder sie deutlicher in den Focus gerückt und uns bewusst gemacht, an welchen Stellen wir weniger weit sind als wir dachten. Versäumnisse bei Digitalisierung und Pflege verschärfen die Krise, Homeoffice und Homeschooling beweisen, dass Haus- und Care-Arbeit immer noch hauptsächlich von Frauen geleistet wird. Zu wieviel „Normalität“ wir als Gesellschaft wieder zurückkehren und was wir ändern wollen, haben wir selbst in der Hand. Aber auch ein Blick auf unsere ganz individuelle „Normalität“ lohnt sich. Ich hätte auch ohne Corona darauf kommen können, aber ich brauchte den Lockdown als meinen Lehrer, um zu erkennen: Einige Aspekte meiner Lebensweise vor Corona machen mich krank. 

Der Lockdown hat mich entschleunigt und gleichzeitig in Bewegung gebracht. 

Ende Oktober haben mein Mann und ich uns freiwillig in einen Lockdown begeben, den wir bis heute praktizieren. Fahrten zum Supermarkt oder an die Oder für einen Spaziergang mit den Hunden sind seither alles, was wir außerhalb unseres Hauses und Gartens unternehmen. Ein einziges Mal trafen wir zwei Leute bei uns zuhause. Als wir mit dem Lockdown beginnen, bin ich in keinem guten körperlichen Zustand. Übergewicht, Arthrose und Rückenprobleme schleppe ich schon lange mit mir herum. Nach einem stressigen Sommer, in dem ich mal wieder mein Arbeitspensum maßlos übertrieben habe, kommen jetzt noch Atemnot und massive Erschöpfung dazu. Auch das ist nichts Neues für mich. Eine ähnliche Situation hatte ich bereits im Jahr zuvor. Teil einer immer wiederkehrenden „Normalität“ in meinen Leben ist es, meine körperlichen Bedürfnisse den alltäglichen Anforderungen unterzuordnen und nicht umgekehrt. Bewusst ist mir das zu Beginn unseres Lockdowns noch nicht. Über meine (körperlichen) Grenzen zu gehen habe ich all die Jahre als Notwendigkeit meines Daseins als freischaffender Künstler akzeptiert. Meine Erschöpfung zwingt mich in eine Erholungsphase mit viel Schlaf und nur den notwendigsten Arbeiten. Bis hierhin alles „normal“. Die Veränderung setzt ein, als ich wieder Kraft schöpfe, unruhig werde und wieder etwas tun will. „Normalerweise“ stürze ich mich jetzt in Arbeit und Aktivität. Spätestens als ich beginne launisch und mürrisch zu werden und mir selbst auf die Nerven falle. Aber selbst die Oderspaziergänge, die mich ablenken könnten von mir selbst, sind bald nicht mehr möglich, weil sich zu Corona noch die Afrikanische Schweinepest in Ostbrandenburg dazugesellt und der Fluss mit Elektrozäunen abgesperrt wird. 

Die Veränderung beginnt mit einem eigentlich nervigen Rückenyoga-Video, dass mein Mann mir aufs Handy schickt, weil die Rückenbeschwerden einfach nicht aufhören wollen. Darin begrüßt mich, begleitet von Meditationsmusik, eine junge Frau im Säuselton. „Hi, ich heiße Rebecca und heute werden wir zusammen n paar Übungen machen, um Stress abzubauen und unseren Rücken zu stärken.“ Anschließend turnt Rebecca mir die Übungen vor, wobei sie sich zusammenreißen muss, nicht zu lachen, um mich schließlich aufzufordern: „Wir fokussieren uns auf unseren Atem und lächeln dabei“. So weit so schlimm. Ich kann esoterisches Gerede nur schwer ertragen. Aber ich tue es trotzdem. Und entspanne. Ich mache weiter mit dem Yoga, obwohl sich mein System mit Händen und Füßen dagegen wehrt. Doch gegen zwanzig Minuten Yoga, die meine Rückenschmerzen lindern, kommt es schwer an. Nach ein paar Tagen muss mein System einen weiteren Angriff vertragen. Die Entspannung macht mich ein kleines bisschen süchtig und ich beginne mit 5 Elemente Qi Gong. Dieses Mal leitet mich Wolfgang mit getragener, leicht heiliger Stimme durch die Übungen. Ich lerne schnell den Ablauf, um seine Stimme besser ausblenden zu können, was mir, im Gegensatz zu Rebeccas Stimme gelingt. Meine Entspannung vertieft sich. Mein System fährt starke Waffen auf. Arbeit und Deadlines stehen an. Ab und an habe ich keine Lust auf die Übungen und muss mich überwinden. Mittlerweile laufe ich im Anschluss eine Stunde auf einem kleinen Trampolin. Etwas, was ich lange vernachlässigt habe, um abzunehmen. Mein Sportprogramm umfasst jetzt zwei bis zweieinhalb Stunden. Ohne die Hundespaziergänge. Mein Blutdruck ist immer noch zu hoch, aber deutlich besser. Auch die Rückenschmerzen und die Arthrose im Fuß sind besser. Ich verliere Gewicht, bin fitter, bewege mich sicherer und aufrechter und gehe gelassener durch den Tag. Und zu meiner Überraschung will ich das nicht aufgeben. Dieses sich um mich selbst kümmern hat was. Ich entscheide mich bewusst dazu meine körperlichen Bedürfnisse über die Anforderungen des Alltags zu stellen und entwickele ein Gefühl für meinen Körper, dass ich lange nicht mehr hatte. Dies ist auch der Moment, an dem ich beginne, tiefgehender darüber nachzudenken, was mich vorher krank gemacht hat. Ich begreife, dass es das Ungleichgewicht zwischen den Anforderungen des Alltags, meist Arbeit, und meinen körperlichen, aber auch geistigen Bedürfnissen ist. Ich begreife das auch, weil um mich herum mittlerweile auch alles in den Lockdown gegangen ist und Runterfahren sich ganz natürlich anfühlt. Denn meine Arbeit verrichte ich, wie auch vorher zuhause. Und ich verrichte sie weiterhin. Aber eben halbtags. Die andere Hälfte ist schon voll mit Yoga, Qi Gong, Trampolin und Zeit, die ich mit meinem Mann und den Hunden verbringe. Meine Tagesstruktur verändert sich. Die Zeit für mich und meinen Körper ist fester Bestandteil meines Alltags geworden. Mein neues „Normal“ weist meiner Arbeit einen neuen Platz zu, der ihr gut bekommt. Ich erledige sie lieber, ich bin beweglicher auch in meinen Gedanken, fasse mutigere Pläne und bin kreativer. Disziplin ist nicht mein Problem und so arbeite ich regelmäßig vier Stunden konzentriert. Ich erinnere mich an eine Psychologin, die mir einmal erzählte, zu mehr als vier Stunden konzentrierter Arbeit sei der Mensch nicht fähig. Und ich lächle dabei.


HS




01Feb


ICH FRAGE dich, ob du dich daran erinnerst, wie es früher war, als du jemanden auf der anderen Straßenseite an der roten Ampel am Zebrastreifen gesehen hast? Du hast auf einer Seite gewartet, um die Person zu begrüßen und mit ihr zu sprechen. Das galt als höflich. Vielleicht hast du dich sogar über die zufällige Begegnung gefreut. Vielleicht warst du interessiert oder neugierig von ihr etwas Neues zu erfahren. Heute ist es anders. Heute grüßt man sich von der anderen Straßenseite, mit großartig demonstrierten Bewegungen, um danach so schnell wie möglich vorbeigehen zu können, lächelt höchstens an der Kreuzung freundlich und fragt "Geht’s gut?" aus der Distanz, wissend, dass die Person überhaupt keine Chance hat zu antworten, wenn, dann im besten Fall mit vielen Gesten und Gesichtsausdrücken, weil ihr euch ja mitten auf einem Zebrastreifen befindet. 

Heutzutage vermeidet man zufällige Begegnungen.


ES



Header by wal_172619

30Jan


Corona hat den Alltag von Schüler*innen, Lehrer*innen und Eltern stark verändert. Nahezu nichts ist wie es einmal war. In der Debatte um Präsenzunterricht oder Homeschooling hat sich in der Schweiz der Verein Bildung Aber Sicher CH gebildet, der mit seinem Offenen Brief über die Gefahren im Klassenraum aufklärt und die Regierung zum Schutz der Kinder, Lehrer und ihrer Familie aufruft. In Deutschland hat auf Twitter die Initiative #BildungAberSicher zusammengefunden, die mit über 11.000 Tweets fordert, Schulen erst ab einer 7 Tage Inzidenz von unter 25  wieder zu öffnen. Eine Homepage der Initiative ist im Aufbau.


Homeschooling scheint unter den momentanen Pandemie - Bedingungen die sicherste Art des Lernens zu sein. Wie es den betroffenen Gruppen damit geht und wie sie versuchen mit den Problemen von fehlender Digitalisierung, mangelnder Zeit oder von bildungsdiskriminierten Kindern umzugehen, könnt ihr im Folgenden lesen und sehen.



In der taz haben die Eltern in der Redaktion ein Best Of zum Thema Homeschooling im Homeoffice -Hausgemachter Wahnsinn zusammengestellt.


Die FAZ gibt unter den Titel „Es geht nur noch ums Überleben“ ihren Leser*innen die Möglichkeit, über ihre Erfahrungen beim Homeschooling zu berichten.


Einen Blick auf die Schule im Wohnzimmer werfen die Potsdamer Neuesten Nachrichten und lassen zwei Schüler*innen, eine Lehrerin und einen Vater zu Wort kommen, wie sie die Ausnahmesituation Homeschooling erleben.


Was bedeutet Corona für dich? Wie sind deine Erfahrungen mit "Homeschooling"? Diese beiden Fragen hat das Schul-TV Wettbergen einer Gruppe gestellt, die in der Debatte um Homeschooling viel zu selten gehört wird: Grundschüler*innen.


Welche Schwierigkeiten beim Homeschooling für und mit Erstklässlern entstehen zeigt ein Video von der Deutschen Welle.

Homeschooling in der Coronakrise: gar nicht so einfach | Video-Thema – Lektionen | DW | 20.01.2021 


Die SWR Landesschau Baden-Württemberg hat die sechsköpfige Familie Böhler im Homeschoolingstress zwischen zahllosen Arbeitsblättern, WLAN-Ausfällen und abgestürzten Videokonferenzen beobachtet.


Wie unterschiedlich sich der Alltag durch Homeschooling verändern kann und was das mit dem Geldbeutel und Wohnverhältnissen zu hat, beleuchtet der Spiegel.


Die zwölfjährige Lexa berichtet in einem fast 2000 mal geteilten Thread auf Twitter über das frustrierende Homeschooling an einem Gymnasium in Sachsen.


 Der Filmemacher und Vater Daniel Wegmann hat sich intensiv mit Homeschooling beschäftigt und Tipps & Tricks für Schüler*innen, Lehrer*innen und Eltern zusammengestellt.



Header by Pezibear   

29Jan


Ein Gastkommentar


Es bleiben die Augen, hinter einer Plastikbrille. Berührungen, durch Handschuhe hindurch. Kein Haut auf Haut Kontakt. 

Es bleibt die Stimme, durch einen dicken Mundschutz hindurch. Das ist alles, über Wochen.


Gelbe Mäntel, grüne Hauben und Plexiglasaugen.

Die Maßnahmen sind obligat. Kein Spielraum für Veränderungen, für Lockerungen, nicht hier. Besuch nur im Ausnahmefall, aber auch nur mit Schutzkleidung, also wieder gelbe Mäntel, grüne Haube und Plexiglasaugen.


Wir betreuen, behandeln, kümmern uns über Wochen. Wir bauen Beziehungen auf, auch zu den Schlafenden. Wir kennen ihre Gesichter, aber sie kennen uns nicht.


Man versucht die Stimme warm klingen zu lassen, Zuversicht zu vermitteln. Hoffnung, wo nicht immer eine ist. 

Man versucht den Berührungen Nachdruck zu verleihen. Die Hand des Gegenübers zu nehmen, sie zu halten, sie zu drücken. Eine Hand auf die Schulter legen, auch bei denen die schon schlafen. Vielleicht kommt doch etwas an, trotz des notwendigen künstlichen Komas.


Sie zu verlieren ist schlimm, nach Wochen zu sehen wie diese heimtückische Erkrankung gewinnt, trotz aller Bemühungen.


Die Menschen kannten uns nicht, aber wir kannten sie. Und man kann nur hoffen, dass es kein einsames Sterben war.


Marleen - Ärztin auf einer Intensivstation



Header by Parentingupstream

28Jan


ICH SEHE eine Bekannte von mir vor einer Bar auf der Straße stehen. Ich winke ihr zu, sie winkt zurück und ich überquere die Straße, um ihr kurz hallo zu sagen. Wir führen den kurzen ‚umarmen wir uns, oder nicht‘ Tanz auf, der in etwa so geht: Ich gehe rasch auf sie zu, bleibe dann abrupt stehen und hebe reflexhaft und unbeholfen die flache Hand, um sie mit einem erneuten Winken zu grüßen. Das ist allerdings so kurz und albern, dass es wie ein Witz wirkt. Sie hebt beide Arme seitlich an, um eine Umarmung anzudeuten, ich imitiere die Bewegung, gehe dabei aber einen Schritt zurück. Wir lächeln beide äußerst unbeholfen.

 „Shall we hug?“, fragt sie, ich grinse ebenfalls idiotisch, und sage „I don’t know, probably not?“. Ein Typ, der daneben steht, sagt: „Of course you should hug!“, ich lache leicht panisch auf und sage „Eh really?“, da hat mich die Bekannte schon in die Arme geschlossen. „So nice to see you!“, ruft sie mir ins Ohr.


NB



Header by Grégory Roose 

23Jan


Die Corona-Pandemie, der Lockdown, die Abstands- und Hygieneregeln fordern uns alle heraus und bringen uns oft an unsere Grenzen. Wie aber ergeht es Menschen, denen es durch ihre Lebensumstände kaum möglich ist, sich durch die Einhaltung dieser Regeln vor dem Virus zu schützen? Wie behandeln wir Menschen in der Pandemie, die zu uns kamen um Schutz zu finden?

Mariama Jatta*, Rosa Sabetnia, Antonina Mensah*,Shahriar Sabazad, Ansu Janneh, Albina Akhmedova und Edouard Abdou* haben dem Sozialwissenschaftler Nikolai Huke erzählt, wie Corona ihre eh schon menschenunwürdige Lebenssituation in einer Gemeinschaftsunterkunft für Geflüchtete dramatisch verschlechterte. Erschienen sind diese erschütternden Interviews in Nikolai Hukes der freitag Community Blog Gefährdetes Leben über den Alltag und Protest in Flüchtlingsunterkünften während der Corona-Pandemie.



„Nicht einmal Tiere behandelt man so“

Interview Mariama Jatta* über ihre Erfahrungen mit Rassismus, Corona und Protest während ihrer Zeit in der Erstaufnahmeeinrichtung für Asylsuchende in der Lindenstraße in Bremen 


„Bedeutet unser Leben nichts?“

Interview Rosa Sabetnia berichtet von ihrem Leben in einer Flüchtlingsunterkunft in Hamburg und ihren Protesterfahrungen während der Corona-Pandemie 


„Du kannst dein Baby nicht verhungern lassen“

Interview Antonina Mensah* erzählt von ihrer Schwangerschaft und ihrem Leben mit einem Neugeborenen in einer Erstaufnahmeeinrichtung für Asylsuchende während der Corona-Pandemie 


„Man muss immerzu klopfen, wie ein Specht“

Interview Shahriar Sabazad erzählt vom Alltag in der Flüchtlingsunterkunft Bargkoppelstieg in Hamburg. Ein Gespräch über kurze Hosen, Kakerlaken und gestresste Familien und Kinder


„Corona begann sich wie wild auszubreiten“

Interview Ansu Janneh lebte in einer Erstaufnahmeeinrichtung in Bremen. Im Interview spricht er über Quarantäne, zivilen Ungehorsam und politischen Protest während der Coronakrise 


„Da wird auf jedes Kinderrecht gespuckt“

Interview Albina Akhmedova über die Situation von Frauen, Kindern und Menschen mit chronischen Erkrankungen in der Erstaufnahmeeinrichtung in Suhl während der Corona-Pandemie 


„Wie im Gefängnis“

Interview Edouard Abdou* erzählt von seinem Alltag in einer Flüchtlingsunterkunft während der Corona-Pandemie 



Header by Pezibear  

Foto by Danko Münzel

21Jan


Ich glaube, Angst ist die schlechteste und zugleich verlässlichste Begleiterin in einer Pandemie. Sowohl im Kleinen, im Persönlichen, als auch im Großen, im Gesellschaftlichen, Globalen. Auch mich hat ein Gefühl von Angst ergriffen als mir klar wurde, dass es sich bei Corona um eine tückische Pandemie handelt, die mich und jede*n andere*n direkt betrifft. So ganz verloren habe ich diese Angst nicht. Seitdem ich akzeptiert habe, dass ich sie nicht loswerde, versuche ich lediglich mit ihr zu leben. Oder genauer gesagt, ich versuche es bei der Angst zu belassen. Keine Panik aufkommen zu lassen. Ich gebe mir seit mehreren Monaten Mühe, meine Ängste zu erkennen, ihre irrationalen Teile ausfindig zu machen und zu benennen. Auch gegenüber anderen. Das gelingt mir mal besser, mal schlechter. So wie bei den meisten Dingen im Leben. 

Aber ich hasse es, dass meine Angst derart sichtbar ist. Als Künstler bin ich es gewohnt mit unsicheren Situationen und Ängsten umgehen zu müssen, mich ihnen immer wieder zu stellen. Aber für gewöhnlich mache ich das mit mir selbst oder Vertrauten aus. Die Pandemie zwingt mich dazu mich öffentlich zu meiner Angst zu bekennen. Nicht weil es keine anderen Wege gäbe, sondern weil ich sonst nicht mit ihr klarkäme. Sie würde schlicht mein Leben übernehmen, meine Vernunft ausschalten, mich irrational, vielleicht radikal handeln lassen. Die Angst würde sich in meinem Körper breitmachen. So wie sie es zwischenzeitlich während der Pandemie getan hat. Sie hat sich in meinem Nacken festgesetzt, in meinen Schultern, hat meine Muskulatur verkrampfen lassen als ich begriff, dass etwas Unberechenbares und Ungutes auf uns zukam, das unser Leben verändern und möglicherweise unsere Existenzgrundlage bedrohen würde. Sie hat mir den Atem geraubt und mich über Wochen körperlich ermüdet, als ich keinen Ausweg aus meiner pandemiebedingten beruflichen Krise finden konnte. Und bis heute ergreift sie mich in einer unangenehm stressigen Art von Anspannung, wenn ich Einkaufen gehe, was ich selbst im selbstgewählten Lockdown seit Oktober tun muss. 

Um die Angst im Griff zu haben, muss ich offen mit ihr umgehen. Das bedeutet, derjenige zu sein, der die Maske aufzieht, wenn mir die Ansteckungsgefahr zu ungewiss ist, auch wenn alle anderen noch sorglos sind. Im Freien zum Beispiel, wenn niemand auf Abstand achtet. Es heißt, abschätzige Blicke zu spüren und bestenfalls zu ignorieren, wenn ich Menschen aus dem Weg gehe, die mir im Supermarkt zu nahekommen. Ich könnte es auch Vorsicht nennen, aber das wäre unehrlich. Das Gefühl, dass ich dabei habe, ist Angst. Konflikte einzugehen ist ebenso Teil dieser Offenheit im Umgang, auch wenn diese, selbst freundlich geführt, als Angriff verstanden werden. Manchmal aber schlägt auch meine Angst in Aggression um. Zum Beispiel als ich in eine Apotheke kam und die Apothekerin sich vor der Verkaufstheke im Kundengespräch befand. Sie und die Kundin, beide maskenlos. Ich schwieg zunächst und ging zum Tresen, um bei der Kollegin mein Rezept einzulösen. Meine Blicke müssen deutlich gemacht haben, was ich von der Situation hielt. Aber niemand reagierte. Ich blieb der Einzige mit Maske in der Apotheke und bemerkte, wie die Wut in mir hochkochte. Über die Unvernunft von Menschen, die es nun wirklich besser wissen mussten, und die Rücksichtslosigkeit der Anwesenden. „Nur noch schnell raus hier“, dachte ich und machte mich ohne Verabschiedung auf den Weg nach draußen. Doch kurz vor der Tür lief mir die maskenlose Kundin direkt in die Arme und meine aufgestaute Wut entlud sich. Ich schrie alle drei an, was für ein unverantwortlicher Haufen sie seien und dass ich nicht für möglich gehalten hätte, dass mir so etwas in einer Apotheke widerfahren könnte. Bewirkt hat mein Ausbruch bis auf Unverständnis nichts. Niemand setzte eine Maske auf und die E-Mail, die ich zuhause an die Apotheke schrieb, blieb unbeantwortet. 

Es macht einfach mehr Sinn, sofort und ruhig mein Recht auf körperliche Unversehrtheit einzufordern. „Bitte halten Sie Abstand“ oder „Entschuldigung, Ihre Maske ist verrutscht“ führt zwar oft zu aggressiven Reaktionen, aber dann kommt sie von meinem Gegenüber. Manchmal ist es nur ein mürrisches Brummen. Ein anderes Mal kann es ein hasserfülltes „Heil Merkel“ sein, dass entgegengebrüllt wird, wie es meinem Mann widerfuhr, als er darum bat, zwei Kunden im Supermarkt mögen bitte Masken tragen. Aber mir ist diese Aggression, solange sie nicht körperlich wird, lieber als die abschätzigen Blicke. Denn hinter der zur Schau gestellten Herablassung lässt sich die Angst leichter verstecken. Wenn sie mich mit wütendem Gesicht Schlafschaf oder Maulkorbaffe nennen, kann ich die Angst der anderen besser sehen. Ihre Angst, die sie dazu verleitet hat, die Gefahr zu ignorieren, ganz gleich, wie schlimm das Ausmaß der Pandemie gerade ist. Die verdrängte Angst, die sie irrational werden lässt, die den Kopf regelrecht in den Sand rammt. Diese Angst, vielleicht schon eine unbewusste Panik, zu sehen, bestärkt mich in meinem Weg der Offenheit. Deswegen sind mir ihre Aggressionen lieber als ihre herablassenden Blicke. 

Ich kann die Ängste verstehen, die diese Menschen antreibt. Das haben wir gemeinsam. Aber durch ihre Weigerung, sich ihren Ängsten zu stellen, gefährden sie sich und andere. Und diese Weigerung der Unvorsichtigen und Coronaleugner kann ich nicht akzeptieren. Letztlich ist es die Angst und der Umgang mit ihr, was uns in der Pandemie spaltet. Sollte ich den Empathielosen empathisch begegnen? Auch, wenn sie unter Umständen mein Leben gefährden? 

Ich weiß noch nicht, wem ich was verzeihen kann. Ein Stück Misstrauen wird wohl bleiben.


HS



Header by Prawny

19Jan

ICH FRAGE mich, wann Corona etwas positiv verändert hat. Mir fällt nicht viel ein. Aber ich erinnere mich an einen sommerlichen Abend am Hallensee – eine unglaubliche berlinerische Szene die vielleicht dank der Corona-Maßnahmen nicht hochgekocht ist.
Als mein Sohn, mein Freund Martin und ich gegen 19:30 aus dem Wasser kamen war uns eine Situation auf der Wiese am Hallensee aufgefallen.

Der Himmel war kurz vor einem Gewitter, die Temperatur immer noch bei 30 Grad, es war der letzte Tag der Schulferien. Auf der Wiese befanden sich nur noch wenige Leute, verstreut auf verschiedene Decken. Der Abstand - Corona-konform.
Immerhin war es ein sehr buntes Bild, so wie es nur in Berlin sein kann - an einer Ecke tanzte eine Gruppe Sinti zu lauten Balkan Beats, ein paar Meter entfernt auf ihrer linken Seite, tanzte eine Gruppe von Leuten mit asiatischer Herkunft zu ihrer eigenen Musik. Auf der anderen Seite wiederum stand ein jüdisch orthodoxer Mann mit Kopfhörern, tanzte zu der Musik, die er auf seinem Gerät hörte und redete mit einer anderen Frau. Wieder ein paar Meter entfernt lagen zwei Männer nackt auf eine Decke, beobachteten und genossen die Atmosphäre. Vor uns saß eine Familie, ein Elternpaar und ihr ca. 8-jähriges Kind. 

Als die Musik lauter wurde, packten sie auch ihre Musik aus und machten sie noch lauter. Viel lauter. Sie spielten Helena Fischers „Atemlos". Das war eine klare Manifestation. Sie wollten ihre deutsche Herkunft manifestieren, sie wollten den ‚Ausländern‘ zeigen, wer hier heimisch ist, vielleicht auch, wer hier beherrscht. Als die Box kurz danach wegen der leeren Batterien ausging, war die Frustration um so größer. Die anderen Gruppen haben trotzdem weiter getanzt, ihre Musik hat weiter gespielt.

Diese Szene hatte Potenzial hoch zu kochen und zu explodieren. Doch es passierte nichts.

Ich frage mich: wie wäre das vor der Corona-Zeit abgelaufen? Ich hatte das Gefühl, dass Dank der neuen Situation und dem Respekt vor den Abstandmaßnahmen die Situation in dem Moment nicht in direkte Gewalt übergehen konnte. Man spürte die Aggressivität in der Luft, aber sie blieb unterdrückt. Die Situation hat sich schließlich friedlich aufgelöst.


ES 



Header by Screen Post

17Jan


Bereits im Herbst, aber immer noch aktuell und sehr hörenswert, beschäftigt sich der Lila Podcast mit dem Thema Gesellschaft unter dem COVID-19-Brennglas – eine feministische Analyse. Shoko und Lena blicken aus feministischer Sicht darauf, wie es Frauen mit unterschiedlichen Lebenssituationen, -herkünften und -entwürfen in der Pandemie ergangen ist und ergeht. Hierzu haben sie eine ganze Reihe an sehr interessanten O-Tönen gesammelt, die unterschiedliche Perspektiven zu Corona zu Wort kommen lassen.

Die beiden Podcasterinnen sprechen über antiasiatischen Rassismus und die #SayHerName Bewegung, die Gewalt gegen schwarze Frauen thematisiert.

Ein weiteres Thema ist Carearbeit. Interviews mit einer Krankenschwester zum Pflegenotstand und zwei Wissenschaftlerinnen über die Situation von transmigrantischen Pflegekräften beleuchten die Ungleichheit in diesem Bereich.

Mit einer Anwältin besprechen Shoko und Lena warum Corona viele Familien zu Gefahrenorten für Frauen macht. Und schließlich berichtet eine Sexarbeiterin über die heikle Situation ihrer Branche und wieso durch die Schließung von Bordellen viele Frauen von Obdachlosigkeit bedroht sind.




Header by Pezibear 

16Jan


ICH DENKE, dass ich meinen Freund J in der U-Bahn sehe. Also ich bin mir ziemlich sicher, dass er es ist. Er sitzt wenige Sitze von mir entfernt, aber mir genau zugewandt. Ich erkenne seine blauen Augen wieder und seine dunkelblonden Haare und oh - er schaut mich auch an. Ist das wirklich J ? 

Er starrt zurück, er muss es sein! Aber warum reagiert er nicht? Warum steht er nicht auf und kommt rüber? Er ist es doch nicht, wie unangenehm, dass ich so glotze, ich schaue schnell weg. Ich schaue wieder hin, er schaut zurück. Ich bilde mir ein an den Augen Js immer etwas spöttisches Grinsen zu erkennen, ich grinse zurück, wie unangenehm, ich hatte ihn gar nicht erkannt. 

Sieht er das Lächeln in meinen Augen? 

Ich nehme meine Kopfhörer aus den Ohren und will aufstehen und zu ihm herüber gehen. Da hält die U-Bahn. J steht auf. Eine völlig andere Statur als ich erwartet hatte, kommt zum Vorschein. Er ist es nicht. Ich setze mich schnell wieder hin und tue so als hätte ich mich bei der Station vertan.


NB



Header by RepentAndBelieveTheGospel