Ein Gastbeitrag
Es ist das erste Mal, dass ich meinen Vater sehe, seitdem wir wissen, dass er Lungenkrebs hat. Fortgeschritten. Unheilbar. Schmerzhaft. Beängstigend.
Ich wage es nicht, ihn zu umarmen. Einer von vielen Momenten, die an mir zerren. Was immer ich tue, es ist richtig und falsch zugleich. Ich hatte noch nie so viel Alkohol an den Händen wie an diesem Tag.
In den nächsten Stunden mit meinem Vater werde ich meine Maske nur einmal abnehmen. Ich erkläre ihm den ärztlichen Befund, den er nicht gelesen hat, und merke, er hat noch gar nicht realisiert, dass er todkrank ist. Da nehme ich die Maske ab, weil ich befürchte, dass sie alle Emotion und Empathie von ihm fernhält. So oder so bin ich ein Todesengel.
Er sagt nicht viel. Ich nehme seine Hand. Sie zittert.
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Ich protestiere innerlich, als mir mein Vater eröffnet, dass wir zum Kaffeetrinken eingeladen sind bei einer Frau, die ich nicht mag. Es ist immer eine überzuckerte langweilige Tortur und nun lauert auch noch Corona am Tisch. Ich versuche gar nicht erst zu erklären, dass wir drei Haushalte und damit temporär verboten sind. Ich bin zu viel.
Eine alte Dame im rosa Pullover empfängt uns. Sie streckt mir unbekümmert ihre Hand entgegen. Sie kommt mir vor wie eine rosa Waffe. Ich erkläre, dass ich ihr nicht die Hand geben möchte.
Ich erkläre, dass ich keinen Kuchen möchte. Ich möchte meine Maske nicht abnehmen, um die beiden nicht zu gefährden, und sage das auch. Die Herrin des Hauses hat offenbar beschlossen, dass sie in ihren vier Wänden keine Maske zu tragen braucht. Mein Vater hält sich an die Spielregeln und vollführt ein ebenso merkwürdiges wie sinnloses Spiel mit Kaffeetasse, Kuchengabel und blauem Stoff. Ich verweigere sogar den Tee. Der rosa Pullover sagt vorwurfsvoll: „Den habe ich extra für Sie gekocht!“ Ich bleibe stur und leide daran, dass ich so unhöflich bin.
Mein Vater fühlt sich ungefährlich und sagt: „Wir sind ja keine Risikogruppe.“ Ach nein? Er ist 87, sie nicht wesentlich jünger. Ich komme aus Berlin und habe mit mulmigem Gefühl zweieinhalb Stunden im Zug verbracht, um hier zu sein. Darf man auf alte fürsorgliche Frauen wütend sein?
BS
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