09 Jan
09Jan


Ein Gastkommentar 

Das klassische Setting für Hochschullehre jenseits amphitheaterähnlicher Auditorien ist das Rechteck. Rechteckige Räume, rechteckige Tische, rechteckige Laptops. Studierende in Reihe, nach vorne ausgerichtet und für frontale Beschallung optimiert, auf dass auch die Gedanken in geordneten Bahnen verlaufen mögen. Das aufzubrechen, bedeutet zeitraubendes Möbelrücken und kleine Völkerwanderungen.

Nun sind wir in digitale Räume geworfen und wieder in Rechtecken gefangen. Im schlimmsten Fall hocken wir inmitten kleiner schwarzer Kacheln, aus denen manchmal eine Stimme zu hören ist. Nicht selten nicht einmal das. Im besten Fall sind alle sichtbar, aber es ist unmöglich, die Gruppe als Ganzes zu erfassen. Schon gar nicht, wenn man sich als Schlüsselperson antrainiert hat, in die Kamera zu schauen.Ich höre Wortbeiträge, bevor ich sie sehe. Was sähe ich nicht alles, wären wir alle in einem Raum! All diese kleinen Reaktionen in Haltung und Mimik, die den Drive einer Vorlesung bestimmen – manchmal lähmend, manchmal beflügelnd – sind nun heruntergedimmt. Es fällt mir leichter, drohende Lähmungserscheinungen zu ignorieren, dafür gebe ich aber auch mehr Energie in den virtuellen Raum als ich zurückbekomme.

Bin ich weniger authentisch? 

Jede virtuelle Vorlesung ist eine Ausnahmesituation. Ich habe mich selten so beobachtet gefühlt. Wirft mich die Kamera in diesen merkwürdigen Performance-Modus? Oder der Ehrgeiz, optisch mehr als erträglich und damit besser als Selbststudium zu sein? Macht mich das nahbarer? 

Ganz sicher nicht.Wir sind nur noch Kopf und Schulter. Manchmal wird mir bewusst, dass meine unbewusste Gestik gar nicht zu sehen ist und ich frage mich, ob das für die Studierenden einen Unterschied macht. Und macht es für sie einen Unterschied, ob ich stehe? Für mich schon. Ich muss stehen, um konzentriert zu sein und um meine Stimme nicht abzuwürgen. Ich vermisse es, durch den Raum zu gehen...

Gefangen im Rechteck. Breakout Rooms suggerieren das Gegenteil. Über einen geheimnisvollen Algorithmus lassen sich immer wieder neue Konstellationen von Teilnehmer_innen kreieren. Das schafft zumindest die Illusion geistiger Beweglichkeit, denn in manchen Breakout Rooms herrscht Stille. Immerhin entlarven diese kleinen virtuellen Bewegungen diejenigen, die technisch gesehen im Raum, aber physisch ganz woanders sind.

Zugleich sind Breakout Sessions merkwürdige Momente des Alleinseins. Was tut man in 10 Minuten, wenn man weiß, die Studierenden sind gleich zurück und erwarten den nächsten Impuls? Der virtuelle Raum ist ein Zwischenreich zwischen den eigenen vier Wänden und denen der Hochschule. Ziemlich fremde Menschen bevölkern plötzlich das persönliche Umfeld. Mit einem Klick sind sie wieder verschwunden. Und mit dem nächsten wieder da. Das müsste mir eigentlich ein Gefühl der Macht geben. Tut es aber nicht. Distance Learning oszilliert zwischen Distanz und Entgrenzung...


Berit - Professorin



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