01 May
01May


Seit mehreren Monaten stellen wir uns in diesem Blog die Frage, wie Corona die Choreographie des Alltags verändert. Was aber, wenn wir als Kulturarbeitende die Choreographie von Corona verändern? In Richtung Rückzug und Lebensfreude. 


Ein Debattenbeitrag 

von Hartmut Schrewe


Momentan sinken die Infektionszahlen seit fünf Tagen in Folge. Aber sie halten sich auf hohem Niveau. Das Problem der Bundesnotbremse ist, dass sie mit ihren hohen Richtwerten weiterhin der Logik des Dauer-Lockdowns folgt, der zwar in seinen Maßnahmen weniger hart ausfällt, aber eben auch nicht zu einer Trendwende führt, die es der Gesellschaft ermöglicht, das öffentliche Leben vorsichtig und umsichtig wieder zu öffnen. Die Infektionszahlen pendeln sich, auch abhängig vom Fortschreiten der Durchimpfung der Bürger*innen, auf einem Niveau ein, bei dem das Damoklesschwert der Notbremse ständig präsent bleibt. Zusätzlich bleiben bestimmte Bereiche, wie die Kultur, Gastronomie oder die Prostitution, die bereits sehr harte Monate hinter sich haben, weiterhin dauerhaft geschlossen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass sich bei hoher Inzidenz und zeitgleicher steigender Durchimpfung sogenannte Escape – Varianten bilden, deren Auswirkungen wir nicht einschätzen können. Ganz zu schweigen von einem überlasteten Gesundheitssystem und Pflegekräften, die am Rande ihrer Kräfte und darüber hinaus sind. Wann haben wir uns an die vielen Toten jeden Tag gewöhnt? Wieso akzeptieren wir, dass immer mehr Menschen mit Long Covid zu kämpfen haben, mit noch unbekannten Folgen?


Wir brauchen einen konsequenten Lockdown, der sich auch auf die Wirtschaft erstreckt 


Der Physiker und System-Immunologe Prof. Michael Meyer-Hermann vom Braunschweiger Hemlholtz Zentrum stellte zur Bundesnotbremse folgendes fest. Das ist Jojo. Unter 100 machen wir auf, dann gehen die Zahlen wieder rauf, dann machen wir wieder mehr Druck. Das zieht es ewig in Länge.“ Er fordert, in einen Niedriginzidenz-Bereich zu kommen und nennt den Wert 35. „Ob 35 oder 100, das kostet uns das gleiche. Wir brauchen die gleichen Maßnahmen.“ Meyer-Hermanns Lösungsvorschlag: „Das Kriterium sollte sein, dass wir in einer Woche die neuen Fallzahlen um 20 Prozent senken. […] Es sind nicht die Maßnahmen, die eine Gesellschaft kaputt machen, sondern das Virus macht die Gesellschaft kaputt.” 

Um das, was Meyer-Hermann fordert, umzusetzen, brauchen wir einen konsequenten Lockdown, der dieses Mal nicht nur die privaten Kontakte einschränkt, wie bisher geschehen, sondern auch die Wirtschaft miteinschließt. Homeoffice, wo immer es geht, geschlossene Produktionsstätten, wo immer es geht, alles dicht, wo immer es geht. Und damit in großen Schritten auf eine Niedriginzidenz zu, die es uns ermöglicht, das öffentliche Leben Schritt für Schritt, vorsichtig und umsichtig, für alle wieder zu öffnen. 

Das Problem ist, dass der halbherzige Lockdown der letzten Monate die Menschen mürbe gemacht hat. Die meisten von uns haben nicht nur die Nase voll von Kontaktbeschränkungen oder Existenzängsten, die allermeisten können einfach nicht mehr. Das liegt zum einen an der mangelnden Perspektive, die ein konsequenter Lockdown bieten könnte, der auch immer noch auf eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz bauen kann. Zum anderen geht uns aber auch die Kraft aus, oder sie ist uns längst abhandengekommen. Wir halten die gegenwärtige Situation kaum noch aus. Wie sollen wir weitere Verschärfungen schultern? 


Mit einem Lockdown mit Kultur 



Wir machen alles dicht, konsequent. Aber wir öffnen für diesen, hoffentlich letzten, Lockdown die Kultur. Wir bleiben zuhause, quälen uns nicht durch volle U-Bahnen, um an einem Arbeitsplatz anzukommen, an dem wir oftmals eine Vielzahl von Kontakten haben, die wir im Privaten vermeiden müssen. Aber wir sitzen nicht zuhause und harren der Dinge, die da kommen, sondern wir gehen aus ins Kino, Theater und Museum. Denn alles ist dicht, außer die Kultur. 


Wer sagt, dass ein Lockdown nicht auch Freude machen darf? 


Wir brauchen etwas, dass uns die Kraft gibt, diese notwendige Kraftanstrengung noch einmal zu meistern. Wer kann das besser als die Kultur, die uns unterhält, anregt und inspiriert. Für einen solchen Lockdown gäbe es sicherlich noch einiges zu tun und zu organisieren. Aber die Kultur, die in dieser Pandemie bewiesen hat, wie konstruktiv und kreativ sie mit der Situation umgehen kann, ist auch gut vorbereitet. Im Sommer und frühen Herbst haben viele Kulturinstitutionen gezeigt, dass sie überzeugende Hygienekonzepte für ihre Zuschauer*innen entwickeln konnten und auch künstlerisch neue Wege bestreiten können, die Kunst und Kultur zu einem sicheren Genuss machen. Wie die TU Berlin in einer Studie belegte, ist die Ansteckungsgefahr in einem Großraumbüro dreimal und in einer Oberschule mit Wechselunterricht sogar sechsmal so hoch wie in einem Theater. Einen Weg, wie die Öffnung für einen Lockdown funktionieren könnte, hat das Berliner Pilotprojekt Testing gezeigt. Zusätzlich zu den Hygienekonzepten der Veranstaltungsorte, haben sich die Zuschauer*innen in teilnehmenden Testzentren einem SARS-COV-2 Antigen Test unterzogen. Mit einem negativen Testergebnis konnten sie dann an der von ihnen gebuchten Veranstaltung teilnehmen. Die zusätzlichen Kosten beliefen sich auf 20€ pro Karte und wurden von der Senatsverwaltung getragen. Doch zum gegenwärtigen Zeitpunkt wäre vieles leichter. Der Bund finanziert allen Bürger*innen mindestens einen Test pro Woche kostenlos (abhängig von der Kapazität an Tests). Auch mehrere Test pro Woche sind möglich. Die Corona App wurde mittlerweile um eine Funktion erweitert, mit der Gäste einer Veranstaltung einchecken können. Lassen sich die Testergebnisse der PCR Tests über die Corona App abrufen, so würde es den Einlass zu kulturellen Veranstaltungen sehr erleichtern und auch der App im Zuge eines Lockdowns mit Kultur eine breitere Akzeptanz verschaffen. 


Die Kultur ist bereit


Den größten Schutz vor einer Ansteckung bieten Veranstaltungsorte mit raumlufttechnischen Anlagen. Es bliebe zu prüfen, ob und wie viele kleinere Veranstaltungsorte mit solchen Anlagen ausgerüstet werden müssen oder ob es andere Wege gibt, Konzerte, Theaterstücke oder Filme in beengteren Innenräumen zu erleben. Vielleicht kann eine Nachrüstung einiger Orte während einer Startphase vonstattengehen, in der die bereits schon gerüsteten Orte, zum Beispiel große stattliche Theater oder große Kinos, öffnen und der freien Szene bzw. unabhängigen Kinos Spielzeit zur Verfügung stellen. Warum sollen Kinos, Theater und Museen nicht von zehn bis zehn geöffnet haben. Das wird ein Kraftakt. Aber die Kultur kann das. Sie veranstaltet Festivals, die sie vor große organisatorische Herausforderungen stellen und meistert diese Aufgabe wieder und wieder. Kulturarbeitende sind Profis darin das Unmögliche möglich zu machen. Und vergessen wir nicht die Euphorie, wieder arbeiten zu dürfen, die den Kulturschaffenden Flügel verleihen wird. 


Alles muss raus


Zu zeigen gibt es viel. Wie viele Filme konnten nicht in den Kinos gezeigt werden? Dank des Förderprogramms Neustart Kultur wurde in den letzten Monaten in der freien Szene sehr viel produziert. Produktionen, die nun auf ihre Premiere warten oder die nur eine Online Premiere feiern konnten, sie alle wollen auf die Bühne. Ein Lockdown mit Kultur würde auch den erwartbaren Stau an den Veranstaltungsorten zum Pandemie-Ende abmildern. Selbstverständlich müssen wir nach Lösungen suchen, dass finanziell benachteiligte Menschen an dem großen bundesweiten Kulturfestival ebenso teilnehmen können wie andere. Hierfür brauchen wir eine solidarische Lösung, die uns vielleicht auch Perspektiven aufzeigt, wie wir nach der Pandemie eine gerechte Kulturteilhabe regeln können. Außerdem bräuchte es noch eine solidarische Unterstützung für die Clubszene, für die dieses Konzept leider noch nicht aufgeht. 

Ein Lockdown mit Kultur verbindet das Notwendige mit Lebensfreude. Er fordert nochmal eine Kraftanstrengung, aber spendet auch Kraft, indem wir endlich wieder genießen dürfen, was wir so lange vermisst haben. Die Kultur.


Eine Perspektive, Lebensfreude und Sicherheit.  




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