22 Mar
22Mar


ICH FRAGE mich, ob ich ängstlicher geworden bin, oder es nur nicht mehr gewohnt bin, U-Bahn zu fahren. Es ist Sonntagabend 23.00 Uhr und wegen des ungemütlichen Wetters bin ich nicht mit dem Fahrrad gefahren, sondern zu Fuß zu meiner Freundin gelaufen. Dann stehe ich in einem U-Bahnhof der U7 und merke wie mein Blick hin und her springt, versucht schnellst möglich zu analysieren, welcher der drei Männer, die sich im U-Bahnhof verteilt aufhalten, eine potentiell unangenehme Situation bedeuten könnte und ob vielleicht jemand anderes am Gleis steht, in dessen Nähe ich mich begeben kann, um mich weniger allein zu fühlen. Eine andere Frau, ein Paar, irgendeine Person, die ganz besonders harmlos wirkt. Aber hier sind nur ich und die drei Männer, die mir aus der Ferne eher unangenehm scheinen, von denen ich natürlich nicht weiß, ob sie es sind, aber die ich lieber gar nicht erst zu genau anschaue, um ihnen keinen Grund zu geben, mich anzusprechen. Einer knallt betont laut seine leere Flasche auf den Fahrkartenautomat und läuft dann schnellen Schrittes und rauchend am Gleis entlang auf die andere Seite des U-Bahnhofs, ich senke den Blick, bin froh als er wortlos an mir vorbei geht.

Sonntagnacht in der U7 halt, denke ich mir. War doch irgendwie schon immer so. Aber dann fällt mir ein, dass ich in letzter Zeit öfter in Situationen war, die sich ähnlich angefühlt haben und dass dieses Gefühl in seiner Intensität und Frequenz neu und anders ist. Das Gefühl völlig allein in einer Situation zu sein, die das Potential hat sich meiner Kontrolle zu entziehen. Wenn ich Nachts nach Hause laufe, durch die Straßen, die mir vertraut sind, die sich aber auf einmal anders anfühlen. Wenn ich merke, wie ich aufmerksamer die Umgebung wahrnehme, damit mir nichts entgeht. Wenn ich die Musik in meinen Kopfhörern leiser mache, um mehr mitzubekommen und wenn ich die wenigen Menschen, die mir im Dunkeln begegnen schnell mustere und überlege, was sie wohl machen, wohin sie gehen, wo sie herkommen und warum sie überhaupt draußen unterwegs sind. 

Bin ich ängstlicher geworden? Ist das eine Frage des Älterwerdens und war ich früher nur jünger und sorgloser? Habe ich zu viele Filme gesehen, zu viele Bücher gelesen, in denen eine solche Situation immer den Anfang des Endes bedeutet? 

Doch die Situation ist eine andere seit die Straßen Nachts leerer geworden sind, vor einem Jahr, nein, vor über einem Jahr mittlerweile. Die Erinnerung an eine U-Bahnfahrt, beispielsweise in der U1 an einem Freitagabend um 2, oder 3 Uhr ist wie aus einer anderen Zeit. Volle Waggons, schreiende und lachende Menschen, eng aneinander gedrückt. Die Straßen voller Grüppchen, in den Fenstern das typisch schummrige rauchige Licht der Kreuzberger Bars. Der ganze Kanal gesäumt mit Menschengruppen, die Musik hören, lachen, sich etwas zurufen. Es war heller, es war lauter, es war belebter. Viele dieser Situationen hatten ebenfalls Gefahrenpotential oder äußerst unangenehme Verläufe. Nie habe ich mich gefreut in eine U-Bahn voll betrunkener Menschen einzusteigen, oder von einem Betrunkenen aus der Bar in meiner Straße direkt vor meiner Haustür in ein Gespräch verwickelt zu werden. Doch der Unterschied war, dass meistens auch noch andere Menschen in greif- oder wenigstens hörbarer Nähe waren. Nur selten war man wirklich allein auf den Straßen, alle waren unterwegs, wohin sie gehen, habe ich mich gar nicht erst gefragt, so viele Möglichkeiten gab es. Jetzt sind die Straßen leer und wer draußen ist, hat einen Grund, oder im schlimmsten Fall keinen. So bedrohlich die Masse im Dunkeln sein kann, so viel Schutz hat sie auch geboten. 

In Deutschland geht die Pandemie in die dritte Welle, in London wird Sarah Everard auf dem Heimweg ermordet und ich werde der Sache allmählich müde. Ich habe keine Lust Angst zu haben wenn ich sehr spät oder sehr früh durch meine Nachbarschaft gehe, ich habe keine Lust Selbstverteidigung zu lernen, ich habe keine Lust nachgeben zu müssen, wenn mir jemand aufdrängt mich nach Hause zu bringen, weil es wahrscheinlich sicherer ist, obwohl ich lieber alleine gegangen wäre. Ich will im Dunkeln Joggen gehen können, ich will, dass die Lichter in den Bars wieder angehen und ich will, dass die Straßen wieder voll und laut sind bei Tag und bei Nacht.


NB



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